Stufe 1: Entspannung und getragene Dehnungshaltung
Der Ausbildungsschritt Entspannen oder auch Lösen findet sich in allen Sparten der Reiterei. Die tiefe Kopf-Halsposition dient der physischen und psychischen Entspannung des Pferdes, ohne die eine erfolgreiche Ausbildung nicht möglich ist. In dieser Kopfposition beim Grasen im langsamen Schritt verbringt das Pferd von Natur aus einen Großteil seiner Zeit. Seine Anatomie ist auf diese Körperhaltung ausgelegt.
Entspannung im Tölt
Durch die Dehnungshaltung wird, wie der Name schon sagt, die Rückenmuskulatur gedehnt bzw. entspannt, so dass die Bauchmuskulatur als Gegenspieler funktional arbeiten kann. Durch die tiefe Kopf-Halshaltung kommt Zug auf das Nackenrückenband. Erst jetzt kann die Rumpftragemuskulatur der Vorhand den Rumpf anheben (v. a. Sägemuskel M. serratus ventralis, Schlüsselbeinmuskel M. subcavius, Brustmuskel M. pectoralis).
Die Rumpftragemuskulatur (M. serratus ventralis, M. subclavius, M. pectoralis)
Lösen im Schritt mit Mobilisation am Widerrist
Besonders wichtig ist dies, da das Pferd kein Schlüsselbein besitzt und der Rumpf nur durch die Rumpftragemuskulatur zwischen den Schulterblättern getragen wird. Nur durch die aktive Rumpftragemuskulatur kann der lange Rückenmuskel als reiner Bewegungsmuskel korrekt arbeiten. Hält das Pferd sich im Rücken fest, z. B. durch Balanceverlust, Überlastung, einen unpassenden Sattel oder zu viel Zügeleinsatz, läuft euer Islandpferd quasi im Hohlkreuz. Eine deutlich sichtbarer Unterhals geht immer (!) einher mit einem abgesunkenen Rumpf. Die Halswirbelsäule hängt mit der restlichen Wirbelsäule zusammen. Das Anheben des Rumpfes sowie eine funktional an- und entspannende Rücken- und Bauchmuskulatur sind daher unmittelbar von einem entspannten Unterhals und einer angehobenen Halsbasis abhängig!
Hat das Pferd nicht gelernt, die Rückenmuskulatur in der Bewegung funktional einzusetzen (Rückengänger), sind Muskelverspannungen, Blockaden oder gar dauerhafte Schäden im Bewegungsapparat vorprogrammiert (z. B. Spat, Kissing Spines, Fesselträgerschäden). Im Extremfall kommt es zur Trageerschöpfung. Mit dem blockierten Rückenschwung verändern sich die Gangarten, vor allem der Vorgriff der Hinterhand. Die Hinterbeine schieben verstärkt nach hinten heraus und fußen nicht mehr Richtung Schwerpunkt. Das Pferd wird zum Schenkelgänger.
Durch das Aufwölben des Rückens und eine Beckenbewegung nach vorne-unten beim Abfußen wird es dem Pferd dagegen ermöglicht, mit dem Hinterbein weiter unter den Schwerpunkt vorzugreifen. Dieser befindet sich dort, wo der Reiter zu sitzen kommt. Dieses Unter-den-Schwerpunkt-Treten ist die Basis für die Ausbildung des Reitpferdes (Traghaltung).
Mehr Vorgriff als Rückschub - Snjóka fußt im Schritt fast unter den Schwerpunkt
Islandpferde besitzen als Distanzpferde für lange Strecken von Natur aus viel Schubkraft und wenig Trag- und Federkraft. Dies kann auch mit dem Exterieur zusammenhängen: Vor allem stark passveranlagte Pferde stehen mit der Vor- und Hinterhand rückständig. Oft ist der Hals tief angesetzt. Der Körperschwerpunkt kommt dadurch sehr weit nach vorne. Viele Islandpferde mit viel Pass "rennen deshalb ihrem Schwerpunkt hinterher" (Thomas Haag). Besonders deutlich wird das unter dem Reitergewicht in Kurven und bei höherem Tempo, da hier die Balance verloren geht. Die Pferde "lösen" das Problem, indem sie sich im Rücken fest machen und ggf. die Gangart Richtung Pass verschieben. Im Pass kann das Pferd durch eine fehlende Rumpfpendelbewegung aber keine korrekte Biegung ausführen. Jede Wendung findet mit steifem Rumpf nur über das Kreuzen der Beine statt (Gelenkverschleiß!). Zum Lösen und öffnen der Ganasche empfielt es sich, anfangs extrem tief zu arbeiten, also wirklich "mit der Nase im Sand". Das Pferd kommt dadurch, so lange der Schub überwiegt, zuerst einmal auf die Vorhand, aber nur so kann der Ausbilder anfangen, eine Dehnung (noch ohne Stellung und Biegung) zu erarbeiten und die Hinterbeine in Richtung Schwerpunkt zu arbeiten. Auch die spätere Stellung und Biegung fällt dem Pferd leichter, wenn es sich strecken kann. Mit zunehmender Ausbildung in Richtung Tragfähigkeit kann das Pferd sich auch lösen, ohne auf die Vorhand zu fallen. Das stehende Vorderbein schiebt dann nur noch so weit zurück, wie das Hinterbein vorgreift. Wichtig ist, die tiefe Dehnung eher im langsamen Tempo zu arbeiten, bis genügend Tragfähigkeit vorhanden ist.
Tiefe getragene Dehnungshaltung im Schritt - nur im langsamen Tempo möglich
In der akademischen Reitkunst wird meistens gelehrt, dass die Dehnungshaltung etwa auf der Höhe des Buggelenks eingenommen werden sollte. Das ist physiologisch auch richtig, da der Vorgriff nicht durch die tiefe Kopfposition behindert wird und das Pferd auf die Vorhand fällt (Taktverlust). Am Anfang der Ausbildung beginnt man nur mit der Entspannung durch das Lösen des Genicks und einer tiefen Kopf-Halsposition. Dann geht man in der Ausbildung weiter mit Stellung, Biegung, den Seitengängen und dem Geraderichten. Das Formen der Oberlinie als getragene Dehnungshaltung wird erst vor der Versammlung trainiert und ist durch die aktive Rumpftragemuskulatur eine fortgeschrittene und für das Pferd anstrengende Lektion. Man erkennt sie daran, dass das Pferd trotz langem Hals mit der Nase deutlich vor der Senkrechten nicht den Vorgriff der Beine verliert. Der Takt bleibt erhalten, was am besten in der Diagonale im Trab erkennbar wird. Die Vorderbeine fußen unter die Nase, die Hinterbeine parallel dazu deutlich vorwärts unter den Schwerpunkt.
Getragene Dehnungshaltung im Trab - mehr Vorgriff als Rückschub (Kurs mit Bent Branderup, Schopfheim)
Wie tief das Pferd nach unten kommen darf und wie die Entspannung und Dehnungshaltung in der Ausbildungsskala einzusetzen sind, sollte man individuell entscheiden. Bei Pferden mit tiefem Halsansatz, zur Förderung der mentalen Entspannung oder bei Reha-Pferden kann die Nase tatsächlich fast am Boden sein, bei Pferden mit höherer Aufrichtung liegt die Position weiter oben. Die Grenze bildet die Erhaltung des Taktes, was besonders gut im Trab erkennbar wird. Fällt das Pferd zu stark auf die Vorhand, bleibt das stehende Vorderbein im Rückschub zu lange am Boden: Es ist keine klare diagonale Fußung mehr vorhanden. Auch im Schritt verliert das Pferd die Balance. Bent Branderup bezeichnet das treffend als "Rückwärts-abwärts". Irgendwo muss man aber anfangen, daher nehme ich eine gewisse Vorhandlastigkeit in Kauf, so lange das Pferd beginnt, nach vorne zu suchen. In jedem Fall ist es hilfreich, nicht längere Zeit und vor allem nicht im hohen Tempo "tief zu reiten", sondern die Dehnungshaltung lieber kurzzeitig einzubauen und die Hinterhand nachzutreiben, ohne dass das Pferd eilig wird. Das ist für das Pferd durchaus anstrengend und sollte daher nicht übertrieben werden. Zur reinen Entspannung empfiehlt es sich abzusteigen.
Ein korrekte getragene Dehnungshaltung, ohne dass das Pferd auf die Vorhand fällt, wird erst mit dem Geraderichten und der beginnenden Versammlung möglich. Daher wird das Pferd in der Akademischen Reitkunst auch erst geritten, wenn es ausbalanciert ist, die Rumpftragemuskulatur einsetzen und sich versammeln kann. Ohne diese Traghaltung sollte ein Pferd eigentlich nicht geritten werden. So lange werden aber die wenigsten Freizeitreiter warten wollen. Daher kann die anfängliche Dehnungshaltung ohne Geraderichtung ein Kompromiss sein, damit man nicht zu lange auf das Reiten verzichten muss. Die Gefahr, dass das Pferd den Reiter nicht tragen lernt und sich im Rücken festhält, ist bei dieser Methode aber größer. Im folgenden Video ist zu sehen, dass die noch zu tiefe Haltung das Pferd auf die Vorhand bringt (= Rückschub stärker als Vorgriff). Andererseits kann die Rumpftragemuskulatur aktiviert werden, das Pferd sucht mit der Nase nach vorne und öffnet die Ganasche. Vor- und Nachteile gilt es hier abzuwägen. Das Reitergewicht wäre in diesem Ausbildungsstand in dieser Gangart ungünstig, da die Vorhandlastigkeit noch verstärkt werden würde.
Trab mit Aktivierung der Rumpftragemuskulatur - beim Naturtölter anfangs oft nur in tieferer Haltung möglich
Ein Pferd mit viel Töltveranlagung, also ein Fünfgänger oder Naturtölter, ist auch in der Lage, in Dehnungshaltung zu tölten. Häufig verspannen sich diese Pferde am Anfang ihrer Ausbildung sehr leicht in den Pass. Das folgende Video zeigt Glæðir in den Anfängen seiner Töltausbildung. Man erkennt deutlich, dass der Unterhals sichtbar ist, da ein (unwissentlich) zu langer Sattel zu Verspannungen der Rückenmuskulatur führte. Ich musste eher entlastend sitzen, sonst verschob er den Takt in Richtung Pass. Außerdem wurde er gebisslos geritten, da er sich sonst schnell einrollte und dann ebenfalls passig wurde.
Tölt am Anfang der Ausbildung (2010)
Tölt in guter Balance (Kurs mit Thomas Haag, Hinterzarten)
Die Dehnungshaltung im Tölt ist der Grundstein, um fünfgängige Pferde mit viel Passveranlagung im Rücken zu lockern und einen klaren Viertakt zu erhalten. Pferde mit viel Trab werden (nach dem Erlernen der Entspannung im Stand und im Schritt) im Trab gearbeitet. Der Trab ist durch die direkte Kraftübertragung in der Diagonale und den "Trampolineffekt" am besten geeignet, um die Rumpftragemuskulatur zu trainieren und in Richtung Traghaltung zu kommen.
Vorwärts-abwärts und "Rückwärts-abwärts"
Bent Branderup hat den treffenden Begriff "Rückwärts-abwärts" geprägt. Hier fällt das Pferd auf die Vorhand, der Rückschub der Vorderbeine wird größer als der Vorgriff. Der Rumpf sinkt dabei nach unten ab und in dieser Haltung ist keine Traghaltung möglich. "Vorwärts-abwärts" hat damit nichts zu tun - hier bleibt der Vorgriff erhalten, die Vorderbeine fußen Richtung Pferdenase. Mit zunehmender Traghaltung gelingt es dem Pferd, sich auch mit tieferer Kopfhaltung zu tragen, sogar mit Reitergewicht. Der Schritt wirkt schreitend, die Vorderbeine werden frei aus der Schulter nach vorne geführt. Die optimale Kopfhöhe für die Gymnastizierung ist individuell unterschiedlich. In dem folgenden Filmausschnitt erklärt Bent das sehr gelungen. Leider ist die Tonqualität nicht besonders, aber ich hoffe, man versteht ihn.
Gute getragene Dehnunghaltung im Schritt (Kurs mit Bent Branderup 2020)
Auf dem folgenden Foto von 2017 erkennt man ein sehr krasses "Rückwärts-abwärts" - hypermobile Pferde liefern hervorragende "Fehler-Bilder" :-o. Hier dominiert der Rückschub, die Vorhand schiebt so weit unter den Bauch zurück, dass die Hinterhand nicht mehr vorwärts unter den Schwerpunkt fußen kann und das Pferd deutlich nach vorne-unten kippt. Auch auf meinen Sitz hat das Auswirkungen: Die Abwärtshaltung der Wirbelsäule lässt mich nach vorne kippen. Ich gleiche das durch ein Zurücklehnen aus. Dadurch übe ich vermehrten Druck auf die hintere Brustwirbelsäule aus, was den Rumpf noch mehr absinken lässt (Pauschen wurden an Sätteln befestigt, um dieses Problem zu "lösen"!). Ein Teufelskreis entsteht. Eine Lösung dieses Problems besteht darin, dem Pferd vom Boden aus die Traghaltung zu erklären. Letzten Endes ist Vorhandlastigkeit ein Hinweis auf eine schwache Rumpftragemuskulatur und Hinterhand. Erst wenn das Pferd vom Boden aus tragen kann, ist es sinnvoll, allmählich das Reitergewicht mit dazu zu nehmen. Ein hocholen des Pferdekopfes bringt dagegen wenig - das Pferd wird dadurch wieder im Rücken fest und der Unterhals wird sichtbar. Bent Branderup bemerkt zum Anheben des Pferdekopfes durch die Reiterhand treffend: "Man kann keinen Stuhl anheben, auf dem man sitzt."
Beim hypermobilen Pferd ist alles extremer - auch das "Rückwärts-abwärts" :-o
Fragen & Antworten
Frage von Marc Lubetzki:
Darf ich mal fragen, ob die Gangpferde der Grund sind, dass du mit Vorwärts-abwärts beginnst und nicht mit Stellung (und Biegung)?
Antwort von Anja:
Thomi Haag begründet den Beginn mit dem Vorwärts-abwärts bei Gangpferden damit, dass dies ein Kompromiss ist, um die Hinterbeine überhaupt Richtung Schwerpunkt zu bringen. Fünfgänger mit viel Pass können ja nicht mal im Schritt ohne Passverschiebung laufen und schieben sehr stark nach hinten raus. Ich kann das bestätigen - mein Fünfgänger war früher nur in Dehnungshaltung in der Lage, taktklar im Schritt und Tölt zu laufen. Als zweites Argument führt er auf, dass viele Freizeitreiter schon frühzeitig ins Gelände wollen und das auch für die mentale Entwicklung eines Jungpferdes förderlich ist. Hier reitet man quasi in Dehnung „ohne" Stellung und erschleicht sich damit quasi das Geraderichten auf einem niedrigen Level, da die tiefe Haltung das gleichmäßige Abfußen der Hinterbeine fördert. Ein richtiges Vorwärts-abwärts ist das aber streng genommen noch nicht - vielleicht ändere ich die Bezeichnung dieser Stufe eher in „Dehnung", damit das klarer wird. Aber wie gesagt, das ist ein Kompromiss und effektiver wäre es, das Pferd zuerst vom Boden aus so weit auszubilden, bis es Stellung und Biegung in allen Gängen beherrscht. Das dauert beim Fünfgänger aber sehr lange. Im Prinzip findet aber beides - Dehnung, Stellung, Biegung - fast gleichzeitig statt.
Frage von Anja:
Thomi Haags tiefes Vorwärts-abwärts hat hier einige Diskussionen ausgelöst, weil das ja in der akademischen Reitkunst nur auf Buggelenkshöhe ausgebildet wird. Ich habe auf der Webseite versucht, beide Positionen aufzugreifen und sehe bei beiden Vor- und Nachteile. Würde mich aber interessieren, wie du das siehst.
Antwort von Katrin Hofmeier (Physiotherapeutin und Tierphysiotherapeutin Fachbereich Pferd vom Islandpferdegestüt Scherzingerhof):
Zum tiefen Vorwärts-abwärts freut es mich natürlich, wenn Du meine Meinung hören willst. Ich finde, es ist eine unverzichtbare Zwischenstation, an der man sich aber nicht zu lange aufhalten darf, da sonst die Hinterhand verloren geht, die aber immer wieder abrufbar sein muss. Ich glaube, keiner bestreitet, daß das "Staubsaugen" die Vorhand belastet, aber in keiner anderen Position ist es meiner Meinung nach möglich, das Genick, sprich Occiput-Atlas-Axis in jede Richtung frei zu kriegen. Es ist ein Werzeug, welches man gezielt einsetzen sollte, ich finde am besten im Stand oder bei der Bodenarbeit im Schritt. Außerdem ist es unersetzbar bei der Vertrauensbildung. Bei der Kavallerie haben sie die jungen Pferde bei den ersten Ausritten sogar fressen lassen, um sie dann wieder aus dieser tiefen Haltung antreten zu lassen. Also, das hat nicht Thomi erfunden.
Diese ganz tiefe Haltung muss einen enormen Einfluß auf die kleinen, die Wirbelsäule stabilisierenden Muskeln haben, die von Wirbel zu Wirbel ziehen, da die Pferde, wenn sie sich richtig fallen lassen, anfangen dreidimensional zu schwingen. Und wenn man sie dann von hinten wieder hochholt, hat man den Eindruck, dass die großen Bewegungsmuskeln viel weniger Kraft brauchen und dass die Bewegung auch durch das ganze Pferd durchgeht. Damit hat diese Übung dann aber auch schon ihren Zweck erfüllt.
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(Text und Zeichnung: Anja, Foto 1, 3: Sara Humpf, Foto 2: Peter Oster, Video 1: Reiten 360°, Video 2: Mara Hebel)